Testierunfähigkeit: Was prüft ein Sachverständiger genau?

Bei der Prüfung der Testierunfähigkeit kommt es auf zwei scharf zu trennende Tatbestandsmerkmale an:

Dauerzustand einer krankhaften Störung (1),

Ausschluss der freien Willensbestimmung (2).

Bei einer sachverständigen Untersuchung ist also zuerst eine Feststellung zu treffen, ob der Dauerzustand einer krankhaften Störung vorliegt (1). In einem zweiten Schritt ist dann der Ausschluss der freien Willensbestimmung zu beurteilen (2).

Es handelt sich also um ein zweistufiges Beurteilungsverfahren mit einer Trennung von

nosologischer

und

psychopathologischer Ebene.

Auf der nosologischen Ebene genügt die Feststellung einer irgendwie gearteten psychischen bzw. geistigen Anomalie, die grundsätzlich zu einer Aufhebung der freien Willensbestimmung führen kann. Für diesen rechtlichen Krankheitsbegriff kommt es wesentlich auf die Art und das Ausmaß der psychopathologischen Funktionseinbußen und deren Auswirkung auf die Einsichts- und Willensbestimmungsfähigkeit an.

Auf der psychopathologischen Ebene ist zu prüfen, welche Auswirkungen die Störung auf die Freiheit der Willensbestimmung hat. Eine solche freie Willensbestimmung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie als normale Bestimmbarkeit einer Person durch vernünftige Erwägungen verstanden werden darf. Der Gutachter muss also die Frage beantworten, ob im konkreten Einzelfall die normalpsychologische Bestimmbarkeit des Willens durch pathologische Determinanten außer Kraft gesetzt war.

(Vergleiche hierzu C. Cording in: Widder / Gaidzik: Begutachtung in der Neurologie, Seite 237).

Wir weisen hierzu auf einige exemplarischer Gerichtsentscheidungen hin, wobei auch auf Entscheidungen zur Geschäftsunfähigkeit Bezug genommen wird. Insoweit ist der Beurteilungsmaßstab deckungsgleich.

OLG Stuttgart, 10.06.2011, 6 U 130/10:

„a) Nach der hier maßgeblichen Vorschrift des §§ 104 Nr. 2 BGB ist geschäftsunfähig, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Ein Ausschluss der freien Willensbestimmung liegt vor, wenn jemand nicht imstande ist, seinen Willen frei und unbeeinflusst von der vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln. Abzustellen ist dabei hierauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann (BGH v. 05.12.1995, NJW 1996, 104, juris, Rn. 11). Die freie Willensbestimmung fehlt nur dann, wenn sie nicht nur geschwächt und gemindert, sondern völlig ausgeschlossen ist. Bloße Willensschwäche oder leichte Beeinflussbarkeit durch andere schließen die Möglichkeit freier Willensbildung nicht aus. Bestimmte krankhafte Vorstellungen und Empfindungen des Erklärenden müssen derart übermäßig geworden sein, dass eine Bestimmung des Willens durch vernünftige Erwägungen ausgeschlossen war. Die Beweislast dafür, dass die Störung der Geistestätigkeit den Ausschluss der freien Willensbestimmung bewirkt hat, trifft denjenigen, der sich auf die Nichtigkeit der Willenserklärung beruft. Verbleiben ernsthafte Zweifel, so ist der Beweis nicht geführt (BGH v. 05.06.1972, WM 1972,972, juris, Rn. 9). Es ist allgemein anerkannt, dass sich der Ausschluss der freien Willensbestimmung nur auf einen bestimmten, abstrakt zu umschreibenden Kreis von Angelegenheiten beziehen kann (sog. partielle Geschäftsunfähigkeit ; BGH v. 19.06.1970, NJW 1970, 1680, juris, Rn. 11; Münchener Kommentar/Schmitt BGB, 5. Aufl., § 104, Rn. 15, 16). (…)

Die Feststellung der Geschäftsunfähigkeit ist nämlich als Rechtsfrage (OLG München v. 25.01.2007, OLGR 2007, 461, juris, Rn. 30; Staudinger/Knothe BGB, 2004, § 104, Rn. 14, 16) nicht vom gerichtlichen Sachverständigen, sondern vom Gericht vorzunehmen (BGH v. 11.10.2005, „Seitenspiegel“, BGHZ 164, 261, juris, Rn. 19; OLG München aaO; Staudinger/Knothe aaO, Rn. 19). Die Frage nach dem Ausschluss der freien Willensbestimmung hat das Gericht in freier Würdigung des gesamten Tatsachenstoffes unter Zugrundelegung der Erfahrungen des Lebens und der Wissenschaft zu entscheiden; an das Ergebnis psychiatrischer oder sonstiger psychowissenschaftlicher Gutachten ist es dabei nicht gebunden und kann demzufolge von ihnen aufgrund seiner richterlichen Überzeugung abweichen (Staudinger/Knothe aaO; OLG München aaO). Eine etwaige Abweichung von einer gutachterlichen Einschätzung zur Geschäftsunfähigkeit hätte das Landgericht ausreichend begründet (s.o. Punkt 2.b.aa).“

Hieraus lassen sich insbesondere folgende Kernaussagen ermitteln:

Der Gutachter muss das Vorliegen einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit prüfen.

Dabei muss er insbesondere untersuchen, inwiefern der Erblasser aufgrund seiner Situation bei der Willensbildung beeinflussbar ist. Man nennt dies auch Formbarkeit.

In der Folge ist dann die Fehlerhaftigkeit der Willensbildung zu untersuchen und zwar insbesondere mit Blick auf die Fragen

welchen Willen der Erblasser gebildet hat (1),

wie der Willensbildungsprozess abgelaufen ist (2),

ob es Anzeichen dafür gibt, dass er einen Abwägungsvorgang vorgenommen hat (3),

ob die Willensbildung generell Fehler aufweist und zwar eben durch die krankhafte Störung der Geistestätigkeit und / oder eine Fremdbeeinflussung (4).

Die Notwendigkeit der Untersuchung des Abwägungsvorgangs wird auch durch folgende Entscheidung bestätigt.

OLG Karlsruhe vom 24.09.2009, 4 U 124/04:

„Für die Geschäftsunfähigkeit kommt es darauf an, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist, oder ob von einer freien Willensbildung nicht gesprochen werden kann, etwa weil Einflüsse dritter Personen den Willen übermäßig beherrschen, oder weil die Willensbildung durch unkontrollierte Triebe und Vorstellungen, ähnlich einer mechanischen Verknüpfung von Ursache und Wirkung, ausgelöst wird (vgl. BGH NJW 1970, 1680, 1681; BGH NJW 1996, 918, 919). Eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit im Sinne von § 104 Nr.2 BGB, auch wenn sie schwerwiegender Natur ist, reicht für sich allein nicht zur Feststellung der Geschäftsunfähigkeit aus. Entscheidend ist hingegen, welche Auswirkungen die krankhafte Störung auf die Willensbildung hat. Hierbei genügt eine gewisse Einschränkung der freien Willensbildung nicht; vielmehr muss ein (vollständiger) Ausschluss der freien Willensbetätigung vorliegen. Die Voraussetzungen für einen solchen Ausschluss der freien Willensbetätigung sind von demjenigen, der sich auf die fehlende Geschäftsfähigkeit beruft, zu beweisen, so dass etwaige Zweifel im vorliegenden Fall zu Lasten der Beklagten gehen.“

Auch das OLG Karlsruhe stellt für eine Beurteilung der Geschäftsfähigkeit, respektive Testierfähigkeit eines Betroffenen auf die Frage der Formbarkeit als eigenes Untersuchungskriterium ab.

Dies fasst eine Entscheidung des BGH nochmals zusammen.

BGH in NJW 1996, 918-919:

„Ein Ausschluss der freien Willensbestimmung liegt vor, wenn jemand nicht imstande ist, seinen Willen frei und unbeeinflusst von der vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln. Abzustellen ist dabei darauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil infolge der Geistesstörung Einflüsse dritter Personen den Willen übermäßig beherrschen (BGH; Urteile vom 14. Juli 1953 – V ZR 97/52, NJW 1953, 1342, vom 19. Juni 1970 – IV ZR 83/69, NJW 1970, 1680, 1681 und vom 20. Juni 1984 – IVa ZR 206/82, WM 1984, 1063, 1064).
Substantiiert dargelegt ist ein solcher Ausschluss nach allgemeinen Grundsätzen, wenn das Gericht auf der Grundlage des Klägervorbringens zu dem Ergebnis kommen muss, die Voraussetzungen des § 104 Nr.2 BGB lägen vor. Auf die Wahrscheinlichkeit des Vortrags kommt es nicht an (BGH, Urteil vom 29. September 1992 – X ZR 84/90, NJW-RR 1993, 189; BGH, Urteil vom 3. Mai 1995 – VIII ZR 95/94, NJW 1995, 1958, 1959).“